(163) Barrierefreiheit muss der Standard sein

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00:00:00: Music.

00:00:07: Marco Herack: Heute ist Donnerstag, der 5. Oktober 2023. Willkommen zur 163. Ausgabe von Systemrelevant.

00:00:17: Felix Welti, ich grüße dich.

00:00:19: Felix Weli: Hallo. Marco Herack: Du bist Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung an

00:00:26: der Uni Kassel. Und Johanna Wenckebach, hallo. Johanna Wenckebach: Hallo Marco.

00:00:30: Marco Herack: Du bist Direktorin des HSI, des Hugo-Sinzheimer-Instituts und ihr beschäftigt euch mit den arbeitsrechtlichen

00:00:35: Fragen in der Hans-Böckler-Stiftung. Und an euch da draußen wie immer der Hinweis, dass wenn

00:00:39: ihr uns noch etwas mitteilen möchtet, könnt ihr uns beispielsweise auf Twitter antickern

00:00:43: @boeckler_de oder auch per E-Mail an systemrelevant@boeckler.de. Also Hinweise,

00:00:47: Korrekturen, Anregungen bitte einsenden. Und Johanna findet ihr auf Twitter als

00:00:52: @jo_Wenckebach. Und wir freuen uns natürlich, wenn ihr uns in einem Podcast

00:00:55: eurer Wahl abonniert. Mein Name ist Marco Herak und wir wollen uns heute über die Tagung

00:01:00: Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und Barrierefreiheit von der Evaluation zur Reform

00:01:06: unterhalten. Dabei geht es um das BGG, das Behinderten-Gleichstellungsgesetz. Johanna,

00:01:12: kannst du uns kurz einen Überblick geben, worum es bei der Tagung geht?

00:01:16: Johanna Wenckebach: Ja, sehr schön, dass wir über das Thema sprechen. Es geht nämlich bei der Tagung unter anderem

00:01:21: darum, dass wir etwas mehr über Barrierefreiheit und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

00:01:27: sprechen müssen. Es gibt da ein sehr wichtiges Gesetz, das Behinderten-Gleichstellungsgesetz,

00:01:33: das aber, das kann man für die juristische Fachwelt sagen, aber auch für die Praxis immer noch in der

00:01:40: Öffentlichkeit eine, die unsere Evaluation gezeigt hat und wie ich auch persönlich finde,

00:01:46: zu geringe Bedeutung hat und zu wenig bekannt ist. Das heißt, wir wollen mit dieser Tagung zum einen

00:01:53: natürlich unsere Evaluationsergebnisse vorstellen. Wir haben im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums

00:02:00: im Juni 2022 in einem Verbund aus Forschenden, zu denen eben auch Felix Welti gehörte,

00:02:08: und ein weiteres Forschungsinstitut, das ISG, und eben unser HSI von der Hans-Böckler-Stiftung,

00:02:15: haben wir dieses Gesetz evaluiert zum zweiten Mal.

00:02:18: Es ist nämlich schon einmal reformiert worden und wir wollten schauen, wie funktioniert dieses Gesetz,

00:02:25: wo funktioniert es aber auch nicht. Das heißt, was muss sich ändern, damit die Ziele des Gesetzes,

00:02:31: nämlich die Gleichstellung von behinderten Menschen, besser umgesetzt werden können

00:02:36: durchgesetzt werden können. Und dazu haben wir in der Evaluation am Ende auch rechtspolitische

00:02:42: Vorschläge gemacht, also dem Gesetzgeber ganz konkret geraten, was geändert werden müsste,

00:02:48: um effektiver für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und für Barrierefreiheit zu sorgen.

00:02:53: Und diese Ergebnisse wollen wir auf der Tagung vorstellen und zur Diskussion stellen und wollen

00:03:00: unsere Ergebnisse natürlich abgleichen mit Erfahrungen aus der Praxis. Das heißt, es sind

00:03:05: viele Menschen mit Behinderung dabei aus Verbänden, die quasi in ihrem täglichen Geschäft damit

00:03:12: befasst sind, das Gesetz zu nutzen und auch seine Grenzen sehr gut kennen. Die wissen

00:03:18: was funktioniert und was nicht funktioniert. Wir haben andere WissenschaftlerInnen eingeladen,

00:03:23: die zur Barrierefreiheit und Behindertengleichstellung forschen. Wir haben die RichterInnenschaft

00:03:29: eingeladen, die mit dem Gesetz arbeiten. Natürlich auch GewerkschafterInnen und vor

00:03:34: allen Dingen Schwerbehindertenvertretungen. Und am Ende natürlich auch das Bundesarbeitsministerium,

00:03:41: Behörden, also diejenigen, die das Gesetz umsetzen oder auch verbessern müssten,

00:03:47: um rechtspolitisch mit ihnen unsere Vorschläge zu diskutieren. Und ich glaube, das wird eine

00:03:52: sehr spannende Tagung. Wir haben mehr Anmeldungen als Plätze tatsächlich. Das heißt, das Interesse

00:03:59: ist wirklich sehr groß. Wir konnten gar nicht alle zulassen, die teilnehmen wollten. Mit so einem

00:04:04: Ansturm hatten wir gar nicht gerechnet und das zeigt, glaube ich, dass es wichtig ist,

00:04:08: diesem Thema Öffentlichkeit zu geben und es auch durch unsere wissenschaftliche Arbeit

00:04:12: in der Stiftung voranzubringen.

00:04:14: Marco Herack: Das BGG als Gesetz, das klingt so ein bisschen so, wenn ihr sagt, wir haben dann am Ende noch Vorschläge, dass es da tatsächlich noch nicht so ganz rund läuft. Verstehe ich das richtig?

00:04:25: Felix Welti: Das kann man so sagen, was umso erstaunlicher ist, als das Ganze eine lange Geschichte hat.

00:04:33: Also wir haben seit 1994 im Grundgesetz den Satz, niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

00:04:40: Und seit 2002 gibt es das Behindertengleichstellungsgesetz, also jetzt schon über 20 Jahre.

00:04:46: 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention dazugekommen, die dem Thema ja noch mal viel Öffentlichkeit gegeben hat

00:04:53: und auch rechtlich.

00:04:54: Von Bedeutung ist, 2014 haben wir das erste Mal dieses Gesetz evaluiert,

00:05:00: 2016 ist es geschärft worden, weil man gesagt hat, das kennen zu wenig Leute, es wird zu wenig angewandt.

00:05:07: Und jetzt hat auch die zweite Evaluation ergeben, dass wir eigentlich eine ganz gute Rechtslage haben,

00:05:12: aber vieles, was da drinsteht, eben noch nicht realisiert ist,

00:05:16: weil es bei denjenigen, die es umsetzen müssten, nicht bekannt genug ist und weil diejenigen, die sich darum bemühen,

00:05:24: also zum Beispiel Verbände von Menschen mit Behinderungen oder auch Schwerbehindertenvertretungen in den Betrieben und Verwaltungen,

00:05:30: da oft gegen eine Wand laufen, nicht unbedingt gegen

00:05:35: Harte Ablehnung, aber alles andere ist immer gerade wichtiger und dass es sich um sehr verbindliche Rechtsvorschriften handelt, ist dann oft nicht bekannt.

00:05:45: Marco Herack: Also ein Vermittlungsproblem und ein Umsetzungsproblem.

00:05:49: Johanna Wenckebach: Ja, ein Reichweitenproblem. An manchen Stellen kann man sagen auch ein Definitionsproblem. Da hat sich durchaus schon viel getan.

00:05:57: Zum Beispiel haben wir in der letzten Evaluation noch sehr stark kritisiert,

00:06:01: dass der Begriff der Behinderung schon zu eng gefasst ist.

00:06:06: Also was ist eigentlich eine Behinderung?

00:06:09: Und diesen Begriff wirklich weniger als etwas zu sehen, was in den Menschen liegt,

00:06:14: was quasi irgendwie ein Merkmal ist, was man definieren kann,

00:06:18: sondern als etwas zu sehen, das von Gesellschaft auch gemacht wird.

00:06:22: Also Menschen werden behindert. Es ist gar nicht so leicht, das natürlich in einem Gesetz auch konkret zu fassen.

00:06:29: Und es gibt so einige Stellen, wo sehr schöne und wichtige Ziele formuliert sind in dem Gesetz,

00:06:35: zum Beispiel die besonderen Belange von Frauen mit Behinderung zu berücksichtigen.

00:06:41: Aber wenn das nicht konkret auch mit Pflichten hinterlegt wird und aktiv in Behörden zum Beispiel,

00:06:48: und zwar an ganz verschiedenen Stellen umgesetzt wird, dann bleibt eben so eine Formulierung nur.

00:06:54: Eine Floske und hilft Frauen mit Behinderung nicht wirklich in ihrem Alltag und in ihren

00:07:01: besonderen Belangen, die das Gesetz benennt. Felix Welti: Es ist eben gerade bei diesem Gesetz wichtig,

00:07:06: dass man die Behinderung von den Barrieren her denkt und nicht vom einzelnen Menschen mit

00:07:11: Behinderung, weil ja diejenigen, die durch dieses Gesetz verpflichtet werden, das sind vor allem

00:07:17: Bundesbehörden, wozu auch die Bundesagentur für Arbeit gehört, also welche mit den Menschen auch

00:07:22: wirklich häufig und bedeutsam zu tun haben, dass man von vornherein die Verfahren barrierefrei

00:07:29: gestalten muss und nicht warten, bis jemand kommt, der sagt, ich habe Behinderung X und dann fängt

00:07:35: man anzuüberlegen, wie man das Verfahren

00:07:38: richtig gestaltet, sondern dass die Verfahren so gestaltet sind, dass die Menschen von vornherein

00:07:42: zu ihrem Recht kommen. Wir haben das gleiche Problem im Arbeitsrecht. Da steht tatsächlich

00:07:47: immer noch drin, eine Arbeitsstätte muss barrierefrei sein, wenn Schwerbehinderte

00:07:52: beschäftigt werden. Das heißt, in den Betrieben wird typischerweise dann gewartet, bis man einen

00:07:57: konkreten Schwerbehinderten hat. Dann macht man was. Wenn man aber darüber nachdenkt, ob man jemand

00:08:02: neu einstellt, dann ist es wichtig, dass die Dinge schon vorbereitet sind und man von vornherein

00:08:08: die Barrierefreiheit hat und Barrierefreiheit ist dann eben nicht nur die bauliche mit den Rampen

00:08:14: und Aufzügen, das kennt man vielleicht, sondern es geht auch um Kommunikation zum Beispiel für

00:08:19: Seh- und Hörbehinderte und es geht auch um Dinge, die für Menschen mit chronischen und psychischen

00:08:25: Krankheiten wichtig sind. Das sind Dinge, die sich erst allmählich hier begrifflich reingeschlichen

00:08:31: haben und wo noch viel Bewusstseinsarbeit auch zu machen ist. Johanna Wenckebach: Gerade auch in der Richterinnenschaft.

00:08:37: Marco Herack: Ja, Johanna, ich fand ja deine Formulierung gerade interessant. Menschen werden behindert.

00:08:41: Das heißt, es spricht dafür, dass kein Mindset vorherrscht, dass die Barrierefreiheit eigentlich

00:08:46: der Standard sein sollte, von dem aus wir denken und nicht etwas, was wir auf das,

00:08:51: was wir haben, draufsatteln. Johanna Wenckebach: Genau und was wir ganz wichtig finden,

00:08:56: das Gesetz nennt das angemessene Vorkehrungen, ist eben die Idee, dass Menschen mit Behinderung,

00:09:03: also die ansonsten behindert werden, an einer gleichberechtigten Teilhabe, die ihnen zustehen soll.

00:09:09: Dass diese Menschen eben besondere Vorkehrungen brauchen, um eine Teilhabe zu ermöglichen.

00:09:16: Ich kann das ganz plastisch machen. Wir haben es nämlich auch tatsächlich sehr umfangreich versucht,

00:09:22: unsere Tagung, über die wir gerade sprechen, barrierefrei auszugestalten.

00:09:27: Und das bedeutet eben nicht nur, das hat Felix gerade schon gesagt, ein Hotel zu finden,

00:09:32: in dem sich Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, gut bewegen können,

00:09:37: auf Toilette gehen können, sie auf die Bühne fahren können, sondern sich eben vorher zu überlegen,

00:09:42: was ist mit Menschen mit Seh-Einschränkungen, mit Hör-Einschränkungen, wie können wir denen

00:09:47: das vermitteln, was im Wesentlichen für Sehende und Sprechende in der Regel nur zugänglich gemacht wird.

00:09:53: Es ist unsere erste Tagung, die eine Hundestation hat, weil es eben für Menschen mit Sehbehinderung

00:09:59: oft dazu gehört, zum Beispiel einen Blindenhund zu haben. Die müssen auch ihren Platz finden

00:10:04: auf dieser Tagung und sich all diese Gedanken zu machen. Das macht eben Barrierefreiheit aus.

00:10:10: Dann wird eine gleichberechtigte Teilhabe möglich. Das ist aber leider in sehr vielen

00:10:15: Bereichen unserer Gesellschaft überhaupt noch nicht Realität. Und wir haben uns im Bericht zum

00:10:21: Beispiel auch mit der Digitalisierung beschäftigt, die ja ganz intensiv in ganz vielen Bereichen der

00:10:27: Gesellschaft des öffentlichen Lebens betrieben wird, wo eben ganz oft auch wieder nur Anwendungsmöglichkeiten

00:10:34: hergestellt werden für Menschen ohne Einschränkungen. Und natürlich ist es nicht okay,

00:10:40: wenn blinden Menschen dann gesagt wird, ja alle anderen können eine App benutzen, aber ihr müsst bitte

00:10:47: dann eben in die Filiale kommen zum Beispiel. Das ist keine gleichberechtigte Teilhabe,

00:10:52: sondern da wird eine Barriere errichtet in der Nutzung digitaler Technik. Und genau die sollte

00:11:00: abgebaut werden und am effektivsten wäre es, wenn man sich vorher überlegt, wie kann diese App

00:11:04: beispielsweise so gestaltet werden, dass sie nicht nur Menschen mit einem Normkörper zur Verfügung steht.

00:11:12: Felix Welti: Und das ist ganz wichtig, weil eigentlich bietet der technische Fortschritt auch enorme

00:11:17: Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen.

00:11:19: Das war der klassische Blindenarbeitsplatz vor ein, zwei Generationen, war zum Beispiel die Telefonzentrale.

00:11:26: Das ist ein neuer Arbeitsplatz, der sehr geeignet war für Menschen mit Sehbehinderungen.

00:11:31: Dann sind die Telefonzentralen irgendwann wegrationalisiert worden.

00:11:35: Und jetzt könnte man natürlich sagen, Verschiedenen assistiven Technologien, die es über das Internet gibt, ermöglichen Menschen mit Sehbehinderungen auch weitere Beschäftigungen, wenn sie denn barrierefrei sind.

00:11:47: Und da sind die Sachen, die im Internet und Intranet von deutschen Bundesbehörden benutzt werden, dann eben oft nicht auf dem internationalen Standard.

00:11:58: Das ist bei dieser Evaluation auch rausgekommen, weil alle anderen Dinge

00:12:02: erst mal im Vordergrund stehen und dieses nicht rechtzeitig mitgedacht wird.

00:12:08: Und deswegen ist es auch sehr wichtig, dass solche Fragen schon in der Planungsphase berücksichtigt werden. Und das ist auch eine Frage

00:12:16: von Mitbestimmung. Und da sind wir zum Beispiel wieder bei den Schwerbehindertenvertretungen in den Betrieben und in den Verwaltungen,

00:12:22: die das Know-how haben. Und wenn man die rechtzeitig fragt, was müsste man tun,

00:12:27: um ein neues System barrierefrei zu gestalten, dann muss man es nicht hinterher aufwendig

00:12:32: nachflicken. Das ist ein ganz zentraler Punkt, den wir an verschiedenen Stellen betont haben.

00:12:38: Barrierefreiheit funktioniert nur, wenn man die Partizipation von Menschen mit Behinderungen

00:12:43: stark macht. Johanna Wenckebach: Das fand ich übrigens einen wichtigen Befund, gerade auch aus gewerkschaftlicher

00:12:50: Perspektive der Evaluation, dass man sehen kann, das ist ja was, was sich auch in anderen

00:12:55: Zusammenhängen immer wieder predige, dass Schwerbehindertenvertretung, also eine kollektive

00:13:01: Interessenvertretung einfach einen wesentlichen Unterschied macht bei der Durchsetzung von

00:13:06: Gleichstellungsgesetzen. Das hat unsere Evaluation gezeigt. Das sind einfach Interessenvertretungen,

00:13:13: die informiert sind, die frühzeitig, wie Felix gerade gesagt hat, die relevanten Überlegungen

00:13:20: in die Entscheidungsprozesse einspeisen können und damit viel effektiver Gleichstellungsgesetze

00:13:27: und Gleichstellungsrechte durchsetzen können, als es einzelne Betroffene tun können. Das ist

00:13:33: gerade bei Antidiskriminierungsrecht oft das Problem, dass die Ressourcen als einzelne sich

00:13:39: gegen diskriminierende Strukturen, die ja oftmals die Ursache sind, zu wehren und die aufzudecken.

00:13:45: Da fehlen die Ressourcen, also im Sinne von Finanzen dazu, die Bereitschaft, sich so einem

00:13:51: Verfahren zu stellen. Und das ist etwas, was, denke ich, auch über die Evaluation des BGG

00:13:57: hinaus ist und auch eine schöne Anerkennung für die vielen Schwerbehindertenvertretungen ist,

00:14:01: dass ihre Arbeit eine Auswirkung hat darauf, ob dieses Gesetz

00:14:06: Anwendung findet und gelebt wird oder eben nicht. Marco Herack: Ich überlege gerade, wie man, weil wir kennen ja unsere Bundesbehörden, die sind ja auch digital nicht so affin,

00:14:17: dass das ein sehr sehr langer Prozess sein könnte, da das Mindset zu verändern in die richtige Richtung,

00:14:23: weil bei digitalen Sachen, denke ich mir, ist es immer noch am einfachsten,

00:14:27: bloß bei anderen wird es ja dann noch schwieriger, das zu vermitteln, woran man da so alles noch grundsätzlich denken sollte.

00:14:33: Johanna Wenckebach: Also Felix hat ja eben schon gesagt, wie lange die Geschichte ist und das ist sicherlich ein bohren dicker Bretter.

00:14:41: Da besteht überhaupt kein Zweifel dran und ich bewundere immer die Hartnäckigkeit auch der Behindertenverbände zum Beispiel,

00:14:49: die sich Jahr um Jahr dafür einsetzen, dass sich da etwas tut und wir können in der Evaluation ja durchaus auch Fortschritte feststellen.

00:14:59: Also das ist für mich als eine Person, die im Wesentlichen damit beschäftigt ist,

00:15:04: Recht für Gerechtigkeitsinteressen einsetzen zu wollen oder zu überlegen, wie kann man das tun,

00:15:11: ist es durchaus ein sehr positiver Befund zu sehen, dass dieses Gesetz Wirkung erzielt und Erfolge hat,

00:15:16: weil es eben gelingt, Sichtweisen zu verändern, Strukturen zu verändern.

00:15:21: Aber natürlich benennen wir in der Evaluation auch sehr, sehr viele Baustellen,

00:15:26: wo man eben sieht, der Fortschritt ist eine Schnecke, das Gesetz wird von vielen als zum Beispiel in der Justiz als nicht wirklich relevant eingeordnet.

00:15:35: Es werden keine Schulungen gemacht und wenn man diese Schulungen nicht macht als Mensch an entscheidender Stelle, dann weiß man eben viele Dinge auch nicht.

00:15:43: Also man könnte sich ja zum Beispiel überlegen, ob Menschen nicht auch verpflichtet werden müssen oder da einfach noch stärker darauf hingearbeitet wird,

00:15:51: dass man dieses Thema nicht einfach verdrängen kann, wenn man es nicht wichtig oder interessant findet.

00:15:57: Sondern dass es Menschen in entscheidenden Funktionen noch ein bisschen stärker unter die Nase gerieben wird.

00:16:02: Und auch das ist etwas, was ich ja in anderen Debatten um Digitalisierung immer wieder stark mache,

00:16:08: weil wir haben zum Beispiel, wenn es um künstliche Intelligenz als Technologie geht.

00:16:12: Definitiv ganz enorme Diskriminierungsrisiken.

00:16:17: Und da hilft es nicht hinterher, irgendwelche Rechtsbehelfe von dann am Ende diskriminierten Betroffenen zu erschaffen,

00:16:23: sondern man muss ganz früh im Prozess ansetzen und versuchen, gar nicht erst die diskriminierenden Strukturen entstehen zu lassen.

00:16:31: Aber das geht eben nicht ohne Kenntnis und Bewusstsein.

00:16:35: Felix Welti: Wir haben ja auch darüber diskutiert, dass es sinnvoll wäre, die Regelungen konsequenter auch auf die Privatwirtschaft auszudehnen

00:16:43: und dass wir große Rechtsunsicherheit haben in dem Bereich, wo öffentliche Dienstleistungen von

00:16:50: Privaten durchgeführt werden, zum Beispiel im Gesundheitswesen, wo dann.. die Krankenkasse

00:16:56: ist eine Behörde, aber wenn der Arzt nicht barrierefrei ist, der ist ja ein Privatunternehmer mal zum Beispiel.

00:17:02: Und da wäre es sehr sinnvoll, gleiche Standards im öffentlichen und privaten Recht zu haben und dann zu sagen,

00:17:07: das ist auch für die eine oder andere Seite finanziell empfindlich, wenn man den Standards der Barrierefreiheit nicht genügt.

00:17:14: Und der behinderte Mensch mit Krankenversicherung ist auch jemand, der einen Anspruch auf ärztliche Behandlung hat,

00:17:20: und zwar auf dem gleichen Niveau wie alle anderen auch.

00:17:23: Das ist nicht hinreichend bisher sichergestellt. Und im Arbeitsleben haben wir halt auch ein Ineinandergreifen von öffentlicher und privater

00:17:33: Verantwortung. Da haben wir auch noch einiges, was der Gesetzgeber anpacken muss. Ich glaube,

00:17:38: Johanna hat schon recht, Strafgelder am Ende der Kette sind nur das letzte Mittel. Und es muss

00:17:44: sichergestellt sein, dass wir vorher in den Entscheidungsprozessen schon eine Berücksichtigung

00:17:50: haben. Das heißt, es muss auch positive Anreize geben. Man muss die Interessenvertretung der

00:17:57: Schwerbehinderten anhören. Und man muss auch sein Interesse entdecken, Arbeit für Schwerbehinderte

00:18:02: attraktiv zu machen. Der Fachkräftemangel kommt uns da vielleicht ein bisschen entgegen. Mal sehen,

00:18:07: wie weit wir daraus auch ein zusätzliches Argument schaffen.

00:18:10: Marco Herack: Das habe ich gerade auch gedacht, als du gesagt hast, die Interessenvertretungen werden oftmals

00:18:15: gar nicht angehört. Also rechtzeitig. Sie kriegen dann quasi das Ergebnis vorgesetzt,

00:18:21: so klang's, und beschweren sich dann. Und dann muss man Software nachbearbeiten,

00:18:25: anstatt dass sie von Anfang an angehört werden. Und das könnte man natürlich schon verpflichtend machen, solche Sachen.

00:18:33: Johanna Wenckebach: In der Privatwirtschaft, also Felix hat ja gerade diese Schnittstelle angesprochen, das finde ich nochmal ganz wichtig zu erklären.

00:18:40: Das Behindertengleichstellungsgesetz richtet sich an Behörden, also öffentliche Arbeitgeber und regelt Barrierefreiheit und Behindertengleichstellung quasi in diesem öffentlich-rechtlichen Bereich.

00:18:52: Privatrechtlichen Bereich haben wir das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Da ist natürlich auch

00:18:58: Diskriminierung von Menschen mit Behinderung verboten. Allerdings gibt es da zum Beispiel

00:19:03: keine explizite gesetzliche Regelung der Barrierefreiheit, so wie sie im Behindertengleichstellungsgesetz

00:19:11: geregelt ist. Und das ist nicht nur ein Problem, also es ist vor allem ein Problem,

00:19:17: wenn man sich die eigentliche Pflicht von Behörden

00:19:20: Zur Herstellung von Barrierefreiheit anschaut im BGG. Es ist nicht nur ein Problem in dem Bereich, den Felix angesprochen hat,

00:19:28: wo nämlich der Staat an Private seine öffentlichen Aufgaben delegiert,

00:19:33: was er ja tun kann, sondern es ist auch im zivilrechtlichen Bereich ein Problem,

00:19:38: weil auch das gehört nun mal zu einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben,

00:19:42: also zum Beispiel Online-Banking machen zu können, eine Wohnung zu finden.

00:19:47: Das betrifft ja ganz zentrale Lebensbereiche.

00:19:50: Die Unterscheidung ist natürlich deshalb, weil Grundrechte den Staat anders verpflichten als Private.

00:19:58: Das erklärt sozusagen diese Unterscheidung und natürlich, wahrscheinlich muss ich das nicht erklären, ich sage es trotzdem noch mal,

00:20:04: natürlich geht es auch um Geld und die Bereitschaft, sich vorab diese Gedanken zu machen,

00:20:09: Barrierefreiheit herzustellen, ist natürlich in der Privatwirtschaft zum Teil auch deshalb gering,

00:20:15: nicht nur, weil es keine Kenntnis gibt oder kein Interesse, sondern weil die Bereitschaft

00:20:19: nicht da ist, für angemessene Vorkehrungen zum Beispiel Geld auszugeben. Wo die Rechtsprechung

00:20:25: inzwischen aber schon soweit ist, deutlich zu sagen, man kann nicht einfach nur sagen,

00:20:29: als Arbeitgeber ist mir zu teuer. Denn es geht ja wirklich um ganz grundlegende Rechte

00:20:35: von Menschen mit Behinderung. Es ist aber gar nicht so leicht, hier die Abwägung zu

00:20:38: treffen. Und wir haben zum Beispiel Vorschläge gemacht, dass an dieser Schnittstelle von

00:20:44: privatem und öffentlichem Raum noch mehr geschärft werden müsste, welche Pflichten auch Private

00:20:51: haben, damit eben Barrierefreiheit im öffentlichen Leben funktioniert. Es ist ja angekündigt,

00:20:57: dass auch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz überarbeitet werden soll. Ich habe mich jetzt

00:21:02: gerade nochmal umgehört. Also das Justizministerium hält sich komplett bedeckt. Im Koalitionsvertrag

00:21:11: steht es sehr deutlich drin. Die Beauftragte des Bundes für Antidiskriminierung,

00:21:17: Ferda Attamann, hat ja ein von vielen Verbänden unterstütztes Eckpunkte-Papier

00:21:23: vorgelegt für Reformvorschläge. Und das hängt hier auch ganz eng mit unserem Thema zusammen.

00:21:28: Denn natürlich reicht es nicht, wenn der öffentliche Dienst sich weiterentwickelt,

00:21:32: sondern wir müssen auch im zivilen leben. Und das betrifft eben auch viele Bereiche der

00:21:36: Arbeitswelt, wo Menschen mit Behinderung enorme Diskriminierung erfahren, das

00:21:41: zeigen wirklich, das zeigen einfach viele Untersuchungen, dass Behinderung ein ganz

00:21:46: relevantes Diskriminierungsmerkmal ist. Also auch in diesem Bereich muss das

00:21:50: Recht einfach weiterentwickelt werden, um für eine effektive Umsetzung dieser

00:21:55: Gleichstellungsrechte zu sorgen.

00:21:57: Felix Welti: Und wir haben hier halt immer noch so ein Kästchendenken, dass wir im politischen Prozess darauf stoßen,

00:22:03: Behindertenpolitik ist Sozialpolitik.

00:22:06: Die Behindertenverbände kritisieren das zu Recht und sagen, Behindertenpolitik ist mehr als Sozialpolitik,

00:22:12: das ist auch Bürgerrechtspolitik.

00:22:14: Das muss in allen Politikbereichen berücksichtigt werden. Aber da, wo das Justizministerium oder das Verkehrsministerium

00:22:23: oder das Gesundheitsministerium gebraucht werden,

00:22:26: haben wir eben deutliche Probleme, weil die Prioritäten andere sind.

00:22:30: Das muss man sagen. Dieses Problem, dass wir im Bereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales

00:22:36: noch einigermaßen offene Ohren finden, aber in allen anderen Politikbereichen

00:22:41: es oft an Zuständigen fehlt, die sich das wirklich zum Anliegen machen,

00:22:46: das ist geblieben.

00:22:47: Deswegen haben wir in der Evaluation auch gefordert, es muss in jeder Bundesbehörde sichtbar und hochrangig jemanden geben,

00:22:54: der auch für die Umsetzung zuständig ist von Behindertengleichstellungsrecht,

00:22:59: damit man die Verantwortung nicht auslagern kann an andere.

00:23:03: Johanna Wenckebach: Und ich bin einfach sehr gespannt darauf. Also auf unserer Tagung wird Felix das auf dem Abschlusspanel diskutieren

00:23:09: mit Dr. Annette Tabara, die die Abteilung Teilhabe und Belange von Menschen mit Behinderung

00:23:15: im Bundesarbeitsministerium leitet.

00:23:18: Auch mit der Beauftragten der Hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderung.

00:23:22: Es ist Jürgen Dusel da, der ist Beauftragter der Bundesregierung für Menschen mit Behinderung

00:23:27: und Verena Bentele vom Sozialverband.

00:23:30: Also das ist glaube ich sehr wichtig, diese Menschen mal dazu ins Gespräch zu bringen,

00:23:34: was denn nun für, also hinsichtlich auch unserer.

00:23:39: Reformvorschläge, die wir im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums erarbeitet haben und natürlich mit den Menschen, die dann dort sprechen, auch im Zuge der Evaluation schon vorher auch im Gespräch waren, was ihre Sicht auf Reformbedarfe ist.

00:23:54: Also es wird ein sehr wichtiges Gespräch und ich bin sehr gespannt, was das Ministerium da äußert, was dann tatsächlich an Reformen kommt.

00:24:02: Marco Herack: Zum Schluss noch eine Frage, wie geht es denn jetzt politisch weiter?

00:24:05: Felix Welti: Also wir erwarten, dass nach der Evaluation das Bundesministerium für Arbeit und Soziales

00:24:10: einen Vorschlag macht, was konkret am Behindertengleichstellungsgesetz zu ändern ist.

00:24:16: Das betrifft Gesetzgebung, das betrifft dann auch Umsetzungsfragen.

00:24:19: Und mit diesem Vorschlag rechnen wir eigentlich noch in diesem Jahr.

00:24:23: Jedenfalls hat das die zuständige Abteilung im Ministerium so gesagt.

00:24:29: Und dann hoffen wir natürlich, dass sich die entsprechenden Interessenvertretungen,

00:24:35: sowohl die Behindertenverbände wie auch zum Beispiel die Gewerkschaften.

00:24:39: Aktiv in diese Diskussion einbringen und auch sagen, wie sie ihrer jeweils eigenen Verantwortung gerecht werden wollen.

00:24:45: Wie schon angedeutet, wird der große Konflikt dann dabei sein,

00:24:48: was macht man in den Bereichen, in denen andere Ministerien zuständig sind und wo sich auch was bewegen muss.

00:24:56: Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag und auch in einigen Verlautbarungen da sich eigentlich recht weit aus dem Fenster gelehnt.

00:25:05: Aber das konkrete Mitziehen der anderen Ministerien ist eben noch nicht so richtig gut erkennbar.

00:25:12: Und da wäre es gut, wenn viele Menschen mithelfen zu drücken.

00:25:16: Johanna Wenckebach: Und ich denke, dass wir mit der Tagung dazu einen Beitrag leisten können und hoffen, dass das dann andere auch noch mal inspiriert und motiviert,

00:25:25: mit dem weiterzuarbeiten, was wir da vorstellen und in die Debatte einspeisen.

00:25:31: Marco Herack: Ja, damit sind wir am Ende der Sendung. Auch wenn ich jetzt irgendwie gerade das Gefühl habe, so richtig befriedigend kommen wir hier nicht raus, weil man hat ja eigentlich immer den Eindruck, deutsche Behörden nehmen es immer ganz besonders genau mit dem Umsetzen diverser Gesetze, aber am Ende entdeckt man dann doch…

00:25:51: Johanna Wenckebach: Das ist ein ganz falscher Eindruck.

00:25:53: Marco Herack: Genau, manchmal doch eine gewisse Willkür, die lässt mich gerade an der Stelle ein bisschen

00:25:58: ratlos zurück. Dennoch vielen Dank für das Gespräch, Felix Welti.

00:26:02: Felix Welti: Ja, gerne. Marco Herack: Und Johanna Wenckebach. Johanna Wenckebach: Gerne, Marco, danke dir.

00:26:06: Marco Herack: Bevor wir hier ganz rausgehen, noch eine kleine Ankündigung. Nachdem ich dann aus dem Urlaub

00:26:11: zurückgekommen bin, haben wir hier begonnen, daran zu arbeiten, Transkripte einzuführen.

00:26:16: Sie sollten eigentlich schon letzte Woche kommen, dann bin ich aber mit den Terminen

00:26:19: durcheinander geraten. Deswegen starten wir jetzt mit dieser Folge, mit den Transkripten,

00:26:24: wenn euch da etwas auffällt, was noch nicht so rund läuft, gebt es uns gerne weiter,

00:26:29: damit wir dann daran arbeiten und es verbessern können. Systemrelevant@boeckler.de ist

00:26:34: die E-Mail-Adresse und während hier eine kleine Kreissäge neben mir dröhnt, haben

00:26:39: wir auch noch einen Twitter-Account @boeckler_de. Dort könnt ihr uns auch informieren und antickern.

00:26:45: Wir freuen uns natürlich auf Feedback. Euch vielen Dank für's Zuhören, eine schöne

00:26:48: Zeit und bis nächste Woche. Tschüss!

00:26:56: Music.

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